An jenem Tag verließ Jesus das Haus und setzte sich an das Ufer des Sees. Da versammelte sich eine große Menschenmenge um ihn. Er stieg deshalb in ein Boot und setzte sich. Und
alle Menschen standen am Ufer. Und er sprach lange zu ihnen in Gleichnissen. Er sagte: Siehe, ein Sämann ging hinaus, um zu säen. Als er säte, fiel ein Teil auf den Weg und die Vögel
kamen und
fraßen es. Ein anderer Teil fiel auf felsigen Boden, wo es nur wenig Erde gab, und ging sofort auf, weil das Erdreich nicht tief war; als aber die Sonne hochstieg, wurde die Saat versengt und
verdorrte, weil sie keine Wurzeln hatte. Wieder ein anderer Teil fiel in die Dornen und die Dornen wuchsen und erstickten die Saat. Ein anderer Teil aber fiel auf guten Boden und brachte Frucht,
teils hundertfach, teils sechzigfach, teils dreißigfach. Wer Ohren hat, der höre!( Matthäus 13, 1-9, Einheitsübersetzung)
In der Mitte seines Evangeliums beginnt Matthäus mit der Wiedergabe einiger Gleichnisse, die Jesus erzählt hatte. Vorher schildert der Evangelist die Herkunft und die erschütternden Umstände der Geburt Jesu, danach seine atemberaubende Lehre in der Bergpredigt, dann verschiedene Wunder und die bestürzten Reaktionen der Menschen, die Wahl und Aussendung der zwölf Apostel sowie verschiedene Streitgespräche Jesu mit Pharisäern und Schriftgelehrten.
Und nun im 13. Kapitel überliefert Matthäus erstmals ein Gleichnis Jesu. Es scheint, als ob damit die ersten 12 Kapitel reflektiert werden. Oder anders gesagt: Jesus gibt uns Anteil an seiner ganz persönlichen Erfahrung, die er in seinem irdischen Leben und in seiner Mission macht. Er ist in die Welt gekommen mit einer Mission, gesandt vom Vater. Er ist gekommen, um die verlorenen Schafe Israels zu suchen und zu sammeln, sein Volk wieder aufzurichten und es als Volk Gottes gleichsam neu zu gründen.
Er tut dies, indem er selber als das göttliche Wort in die Erde absteigt, wie ein Samen, der in die Erde fällt. Er tut dies, indem er die Botschaft in ihrer ganzen Klarheit und Radikalität verkündet. Er tut dies, indem er den Menschen und insbesondere den schwachen, kranken und sündigen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Er tut dies, indem er stellvertretend für die 12 Stämme Israels die 12 Apostel wählt und beauftragt.
Jesus ist gekommen, um Sein Volk zu gründen; Sein Volk, zu dem alle Menschen gehören sollen. Und Er erlebt, dass seine Mission von Anfang an teils auf erbitterten Widerstand stösst, teils auf Unverständnis, teils auf Begeisterung und Enttäuschung, teils auf Hass und Wut, teils auf Gleichgültigkeit oder Neid und teils auf offene Ohren und Herzen.
Im Gleichnis vom Sämann erzählt Jesus uns seine Erfahrung. Das ist wunderbar! Er teilt mit uns, was er selber erlebt. Er gibt uns Einblick in sein Inneres. Gleichzeitig macht er uns damit aber noch ein viel grösseres Geschenk. Er gibt uns für alle Jahrhunderte eine Beschreibung, wie Volk Gottes in dieser Welt erzeugt wird. Und brauchen wir nicht gerade heute eine solche Beschreibung? Sind wir nicht gerade heute bei uns wieder an einem Punkt angelangt, wo es dringend ist, dass in dieser Welt Volk Gottes neu entstehen, wachsen und sich entwideinckeln kann? Und sind nicht gerade wir jene, die Jesus als seine „Apostel“ dazu beruft?
In seinem Gleichnis gibt uns Jesus ein paar wichtige, sogar unverzichtbare Hinweise für unsere Aufgabe, Volk Gottes, Kirche zu „gründen“ oder zu entwickeln:
1 Der Hauptakteur ist Jesus, das Wort. Jede und jeder, der Kirche entstehen lassen will, muss das Evangelium, insbesondere die Bergpredigt so
verinnerlichen, dass sie in Fleisch und Blut übergeht, damit sie/er zum Wort wird, das täglich gesät wird.
2 Das Reich Gottes geht nicht schnell auf, sondern wächst langsam, zuerst unsichtbar, unter der Erde. Wer Kirche entstehen lassen will,
braucht Geduld und sehr langen Atem. Er muss mit Mühe und Anstrengung rechnen, sie gleichsam bereits im Vornhinein einplanen.
3 Widerspruch und Enttäuschung ist selbstverständlich. Es lohnt sich nicht, dabei stehenzubleiben, sich zu ärgern, darauf zu reagieren
und Zeit zu verschwenden. Einfach weitersäen, vielleicht an einem andern Ort.
4 Erkennen und wahrnehmen, wo die Saat aufgeht und genau da Zeit und Kraft investieren. Da muss bewässert, gehackt und gedüngt werden. Da
soll man sich darüber freuen. Wer Kirche entstehen lassen will, muss erkennen, in welchen Menschen das Wort Gottes ebenfalls in Fleisch und Blut übergeht. Mit diesen Menschen muss man sich
zusammentun oder besser gesagt, sich von Jesus zusammentun lassen.
5 Jetzt sind wir mehrere, vielleicht Zwölf. Jetzt sollen wir Frucht bringen, hundertfach, sechzigfach,
dreissigfach. Jetzt stellt sich uns die Frage, was unsere Aufgabe ist. Denn Kirche entsteht nicht, damit sie da ist, sondern damit sie Frucht bringt.
Ruedi Beck
Pfarrer der Hofkirche Luzern,
aktiv in der Fokolar Bewegung